»Ich glaube nicht, dass man weit kommt, wenn du von Beginn an die Vergangenheit verleugnest oder sie ablehnst. – I do not believe that you can go far if you start by denying or opposing the past.« (Pablo Veron)
Francisco Canaro war ein äusserst geschäftstüchtiger Selfmademan. Niemand hat so viele Schallplattenaufnahmen (bei Odeon) gemacht wie er – er nahm alles auf, was ihm zwischen die Finger kam und war erfolgreich damit. Er hat uns grossartige Milongas geschenkt, seine Valses sind gut, bei den Tangos hat es vor allem in der Frühzeit einiges interessantes. Dennoch wird er nicht zu den 'Grossen Vier' gezählt. Ich gebe zu: er gehört, ausser bei den Milongas, nicht unbedingt zu meinen bevorzugten Orchestern (weitere Infos werden folgen).
Angel d'Agostino stellte sein erstes Orchester 1920 zusammen, das Jazz und Tango spielte und unter anderem bei der Begleitung von Stummfilmen sein Geld verdiente. Angel d'Agostino wird meistens mit dem Sänger Angel Vargas in Verbindung gebracht, die beiden bekamen aufgrund der Vornamen die Bezeichnung 'Los dos Angeles – die beiden Engel'. Sie trafen sich bereits 1932, aber erst 1940 taten sie sich zusammen. Sie spielten zusammen 94 Aufnahmen ein, in dieser Zeit nahm d'Agostino nur sieben Instrumentaltangos auf. 1946 trennte sich Angel Vargas von d'Agostino und nahm eine erfolgreiche Solokarriere auf. Eines der bekanntesten Stücke des Orchesters ist Tres Equinas, und das wird (leider) bei fast jeder d'Agostino-Tanda gespielt…
Alfredo de Angelis Seine Musik wird beschrieben als leicht und romantisch. Jedoch ist der Ausdruck leichte, romantische Musik nicht immer als Kompliment zu verstehen. Seine Gegner und Kritiker nannten es recht abschätzig 'Musica de calesita' – Karussell- oder Jahrmarkt-Musik. Für uns Tänzer soll das egal sein. Unüberhörbar hat de Angelis einige bezaubernde Titel eingespielt, die einfach nur schön sind und die ich sehr mag. Das drückte sich auch darin aus, dass er sehr erfolgreich war. Seine Musik war äusserst beliebt, er hatte eine treue Fangemeinde an Radiohörern, und es war leicht für ihn, grosse Tanzsäle zu füllen. In den späteren Jahren wurde de Angelis zunehmend softy bis hin zu schmalzig. Aber da war er offensichtlich nicht alleine, da gab es noch einige andere Orchester (weitere Infos folgen).
Julio & Francisco de Caro Auch wenn die Musik des Orchesters de Caro eher selten an Milongas zu hören ist, so waren die de Caros zu ihrer Zeit äusserst beliebt und sehr einflussreich. Der Vater der Gebrüder de Caro war Leiter der Musikakademie am Teatro Scala de Milano gewesen. Als der Vater hörte, dass seine Söhne, statt klassischer Musik diese seltsame Musik der Unterschicht, den Tango spielen wollten, warf er sie aus dem Elternhaus. Vielleicht wollten die Söhne es ihrem Vater zeigen, dass Tango-Musik so komplex wie klassische Musik sein konnte und wollten den Tango auf ein neues Niveau heben. Die Musiker mussten die komplexen Arrangements (im Vergleich zu anderen Orchester jener Zeit) unheimlich viel üben. Das de Caro-Orchester führte einige neue Spieltechniken ein – spätere Orchester übernahmen sie. Pugliese brachte seine Komposition Recuerdo ein, die das Orchester 1926 aufnahm. Als Pugliese sein eigenes Orchester hatte, erwiderte er das Kompliment mit der Aufnahme verschiedener de Caro-Titel.
Edgardo Donato Die in Europa sehr gerne gespielten, schwungvollen Interpretationen von Donato waren in der Tangoszene von Buenos Aires lange völlig untervertreten. Laut einem Informanten gab es erst ab dem Jahre 2000 eine CD, davor existierte nur eine (!) LP. Eine Besonderheit seines Orchesters: wir hören oft ein Akkordeon anstelle der sonst üblichen Bandoneons. Und während in den anderen Orchestern meistens männliche Sänger auftraten, hört man bei ihm auch die Sängerin Lita Morales (weitere Infos werden folgen).
Roberto Firpo war nach Canaro derjenige Orchesterleiter mit den meisten Aufnahmen (laut M. Lavocah mehr als 2000 Schallplattenaufnahmen, wobei der grössere Teil noch mit der akustischen Aufnahmeteechnik gemacht wurde). Seine erste Aufnahme machte er bereits 1913 bei Odeon-Nacional, kurz nachdem er bei einem Wettbewerb einen Preis gewonnen hatte. Zu seinen bekanntesten Kompositionen gehören Alma de bohemio, El amanacer und Fuegos artificiales. Mit Roberto Firpo wurde das Klavier das führende Instrument im Tango. Um 1913 kam der Kontrabass dazu, der das Klavier rhythmisch unterstützen sollte. In der Folge bildete sich das ›Sexteto tipico‹: Klavier, Kontrabass, zwei Geigen und zwei Bandoneons. Diese Entwicklung im Instrumentarium führte dazu, dass die Tango-Musiker (Flöte, Gitarre) nicht mehr so beweglich war, und dass der Tango mehr und mehr von Ensembles gespielt wurden, die an Orte mit einem Klavier gebunden waren. Der oft angefeindete Tango der Arrabales (Vororte) zog mehr und mehr in die Stadt. Firpo, der in den frühen Zeiten des Tango ein Innovator war mit grossem kommerziellen Erfolg, wurde von den neuen Entwicklungen im Tango überholt. Firpo ist recht selten an den Milongas zu hören. Aber das liegt auch daran, dass die interessanteren Aufnahmen seines Orchesters auf CD selten zu finden sind (die weniger interessanten Quartett-Aufnahmen hingegen schon).
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Osvaldo Pugliese Meister Pugliese wird in Bs As ebenfalls zu den 'Grossen Vier' gezählt. Von Osvaldos Vater weiss man, dass er viele wichtige Persönlichkeiten des Tango kannte. Mit 15 Jahren spielte Osvaldo Pugliese bereits Klavier und machte später Station in den Orchestern von Roberto Firpo, de Caro, Pedro Maffia, Pedro Laurenz und Miguel Caló, bis er 1939 sein eigenes Orchester gründete. Bis zu seiner ersten Schallplattenaufnahme dauert es bis 1943. Als bekennender Kommunist wurde er von den Machthabern immer wieder ins Gefängnis gesteckt, aber seine grosse Beliebtheit beschützte ihn vor Schlimmeren, er kam immer wieder frei. Mir gefallen vor allem seine frühen Werke mit ihrer Innigkeit. Die Bezüge zum Orchester de Caro sind unüberhörbar mit den Aufnahmen von Tierra querida, Mala pinta und Boedo. (weitere Infos werden folgen).
Enrique Rodriguez startete als Bandoneonist, spielte aber auch Klavier und Violine. Frühe Stationen seiner Musikerkarriere waren u.a. Juan Maglio und Edgardo Donato, wo er aber nur kurze Zeit blieb. Aber offensichtlich wurde er von dessen Stil beeinflusst. Nach Auftritten am Radio, wo er unter anderem den Sänger Francisco Fiorentino begleitete, gründete er 1936 sein eigenes Orchester mit dem Namen 'La orquesta de todos los ritmos'. Bereits 1937 bekam er einen Schallplattenvertrag bei Odeon. Dort blieb er für 34 Jahre und machte über 350 Aufnahmen (weitere Infos folgen).
Anibal Troilo, dessen Aufnahmen bei keiner Milonga fehlen sollten, gründete den Kern seines Orchesters um 1937. Im März 1938 machte Troilo zwei glänzende Aufnahmen: Tinta verde und Comme il faut, die in ihrer Art in eine neue Zeit wiesen. Schaut man sich die Aufnahmeliste von Troilo an, dann sieht man, dass die nächsten Aufnahmen erst 1941 eingespielt wurden. Warum drei Jahre keine Aufnahmen nach so einem guten Start? – Odeon hatte in jener Zeit die üble Angewohnheit entwickelt, Künstler unter Vertrag zu nehmen, nur damit sie nicht bei der Konkurrenz unterschrieben... Über die perfektionierte Kunst, wie Troilo den Rhythmus einsetzte und mit seinem Sänger Francisco Fiorentino Melodie und Gesang kombinierte, liesse sich noch einiges sagen (weitere Infos folgen).
Michael KI, im Juni 2020
Zum Bild mit den Orchesterleitern (v.l.n.r):
Edgardo Donato; Carlos di Sarli; unbekannt; Anibal Troilo; Julio de Caro; Osvaldo Fresedo; Ricardo Tanturi; unbekannt; unbekannt.
Europa – hast du es besser?
2019 hatte ich ein aufschlussreiches Gespräch mit einem älteren Tango-DJ aus Buenos Aires. Mir war bekannt, dass im Gegensatz zu Europa gewisse Orchester in Buenos Aires viel weniger gespielt werden. Und so nahm ich die Gelegenheit und fragte: »Hier in Europa ist das Orchester von Edgardo Donato sehr beliebt. Wie ist das in Buenos Aires?« – »Höchstens eine Tanda, und dann ganz am Anfang.« Ich fragte weiter nach Enrique Rodriguez, nach Alfredo de Angelis, nach Canaro und Juan d‘Arienzo, was die gängige Meinung über diese Orchester in Buenos Aires sei.
Hier in Europa ist zum Beispiel das Orchester von Enrique Rodriguez beliebt: Gute Musik, gefällig und solide arrangiert, bestens geeignet für entspanntes Tanzen. Eine grundlegende Fröhlichkeit, die aus seinen Kompositionen spricht. Seine vergnüglichen Foxtrotts, auf die man Milonga tanzen kann und die einen Abend beleben können. Ja, Rodriguez hat nicht die Komplexität eines Troilo oder das Raffinement von Caló – das will niemand bestreiten. Aber deswegen Rodriguez nicht zu spielen, kommt uns hier in Europa nicht in den Sinn. Interessant – die meisten CDs von Rodriguez kamen hier in Europa heraus (als erste die ›Otros Ritmos‹), und von hier aus gab es erst, so wurde mir gesagt, eine entsprechende Rückkopplung nach Argentinien.
Ja – hier in Europa haben wir es besser, denn wir können unbefangener an diese Musikgattung herantreten. Mir scheint, dass in Argentinien sich gewisse Beurteilungen festgesetzt haben, die wir hier in Europa manchmal mit Erstaunen zur Kenntnis nehmen. Ich bin nicht der Einzige, der über manch etablierte Urteile verwundert ist, man spürt diese Verwunderung auch immer wieder in den Büchern von Michael Lavocah.
In meinen Besprechungen habe ich ab und zu die Beurteilungen aus Buenos Aires zitiert, zum Beispiel die des Hofchronisten bei Todotango, Julio Nudler, bei denen ich mir manchmal verwundert die Augen gerieben habe. Zum Beispiel bei seinen Bemerkungen zum Orchester von → Ricardo Tanturi. Aber jeder meiner Leser möge anhand der Musikbeispiele sich selber ein Urteil bilden.
Traditionalismus?
Ja, ich gebe gerne zu – ich bin jemand, der die Musik aus der Epoca de Oro besonders schätzt. Ich bewundere die grosse Vielfalt dieser Musik, die Art, wie die musikalischen Einfälle in kunstfertige Arrangements umgesetzt wurden, und wie innerhalb der Melodieführung auf äusserst geschickte Art Rhythmus erzeugt wird, und das ohne Schlagzeug oder andere gebräuchliche Rhythmusinstrumente – dafür alles bestens tanzbar! Für mich ist das ein ausserordentlich beeindruckender Schöpfergeist. Eine musikalische Glanzleistung, die nach dem Niedergang nicht mehr erreicht worden ist.
Und ja – ich organisiere die Musik in Tandas mit Cortinas. Nicht etwa, ›weil es in Buenos Aires so gemacht wird‹, sondern weil es sich als die angenehmste Art zu tanzen herausgestellt hat. Insofern kann man mich vielleicht als ›Traditionalisten‹ bezeichnen. Aber trotzdem lehne ich das Wort Traditionalist ab, denn ich bin nicht jemand, der unbesehen eine ‘Tradition‘ übernimmt. Man muss nicht alles nachmachen, nur weil behauptet wird, dass ›es in Buenos Aires so gemacht wird‹. Abgesehen davon, dass sich alles erst über die Zeit entwickelt hat – Tango und wie man ihn tanzte war nie etwas Starres. Das Festschreiben einer gewissen Tradition (und das Pochen darauf) darf man immer hinterfragen – z.B. warum gerade die Gepflogenheiten eines bestimmten Zeitabschnitts zur Tradition erhoben wurden?
Tango ohne die Wertschätzung im Ausland?
Und wieder einmal sei die Frage erlaubt, ob der Tango hätte überleben können ohne die Anerkennung im Ausland? Ist das Ansehen des Tango im eigenen Land nicht erst durch die Wertschätzung im Ausland gestiegen?
Eine weitere Anmerkung, die bereits von anderer Seite gemacht wurde: Da ist vielleicht das grösste Kulturgut, das Argentinien je hervorgebracht hat – aber wie geht es damit um? Welche Wertschätzung ist es, wenn wertvolle Schellack-Masters ohne zwingende Notwendigkeit vernichtet werden? Wurden die besten Digitalisierungen und Transfers auf CD in Argentinien gemacht? Nein, es waren japanische Sammler, die gut erhaltene Schellackplatten rechtzeitig gerettet und nach Japan gebracht und in sauberer Qualität transferiert haben. Warum sind entsprechende Projekte einer Sammlung dieses Kulturguts und deren Digitalisierung von den argentinischen Kulturbehörden nicht unterstützt worden? Die Frage sei erlaubt: Sieht Wertschätzung nicht anders aus?
Eine gewisse Distanz hat seine Vorteile. Vielleicht können wir durch diese Distanz eher erkennen, dass diese Musik etwas Besonderes ist, als wenn sie einfach so da wäre. Ja – wir lieben diese faszinierende Musik. Auf unsere Art und Weise. Es ist nicht besser, aber sicher auch nicht schlechter, wenn wir in Europa z.B. das Orchester von Edgardo Donato mehr schätzen als es in Argentinien geschätzt wird. Und die Qualität unserer Wertschätzung ist nicht unbedingt davon abhängig, ob alle wissen, dass Troilo den Vornamen Anibal (gefälligst mit einem Betonungszeichen auf dem i) und den Übernamen Pichuco hatte.
Ja – ich meine, Europa, du hast es besser. Wir können unbefangener an die Musik herangehen und sie als etwas selten Schönes wertschätzen.
Michael KI, im September 2020